Sind wir schon am Ende der Krise, oder wird es eine Krise ohne Ende? Wer ist tatsächlich der kranke Mann Europas und warum springt der Konsum trotz höheren verfügbaren Einkommens nicht an? Diese Fragen stellte der Chefökonom der Industriellenvereinigung Österreich, Christian Helmenstein, im Zuge seines Vortrages anlässlich der Mitgliederversammlung der Kärntner Industriellenvereinigung bei der Philips Austria GmbH in Klagenfurt. Mehr als 70 Interessierte aus dem Bereich der Industrie waren der Einladung von Timo Springer, Präsident der Industriellenvereinigung Kärnten, und Claudia Mischensky, Geschäftsführerin der Industriellenvereinigung Kärnten, sowie von Hausherr Hans Peter Rammel gefolgt.
„Nichtstun ist keine Option mehr“
Helmenstein sprach von einem Stagnationsregime, in welchem wir uns in Österreich befinden. „Nicht Deutschland ist der kranke Mann Europas. Wenn überhaupt, sind wir der kranke Mann Europas.“ Deutschland stagniere, während Österreich sich weiterhin in der Rezession befinde. „Und wir benötigen, einen disruptiven positiven wirtschaftspolitischen Schock, um das Stagnationsregime zu verlassen. Nichtstun ist keine Option mehr. Es gibt kein Weitermachen wie bisher“, ist der Ökonom überzeugt.
Wir brauchen einen „Neustaat“
Derzeit würden wir uns in Österreich eines sehr hohen Wohlstandes erfreuen. Dementsprechend sei auch die Fallhöhe, wenn wir es nicht schaffen, uns aus der Stagnation zu befreien, so Helmenstein. Unter anderem müsse das Pensionssystem in Österreich dringend reformiert werden. Wenn nicht, drohe ein kumulativer öffentlicher Zuschussbedarf von einer Billion Euro bis 2050. In Richtung der neuen Regierung meinte Helmenstein: „Es wird hinsichtlich der Stagnation um die Frage gehen, ob wir wie in Italien 20 verlorene Jahre sehen werden, oder doch nur 5. Wir brauchen nicht nur einen Neustart, sondern auch einen neuen Staat.“
Wo stehen wir in Österreich, wo in Europa, und was können wir tun, um unsere Situation zu verbessern? Denn, so Helmenstein, so schlecht sei die internationale Konjunkturlage gar nicht. Österreich schaffe es nur nicht, am globalen Wachstum von drei Prozent zu partizipieren. Der Grund: „Wir haben uns mit hohen Kosten aus dem Markt gepreist.“ Man müsse demnach dringend über Kostentreiber wie weitaus zu hohe Lohnstückkostendynamiken und Energiekostennachteile reden, und überlegen, wie man die Überbürokratisierung, die vor allem aus Brüssel komme, los wird.
Kein investitionsgetragener Aufschwung
Und zur Konjunktureinschätzung: „Das Gros der Unternehmen in der Industrie erwartet eine weitere Verschlechterung der Gewinnsituation. Im Moment haben wir in den meisten Branchen erheblich unterausgelastete Kapazitäten. Die aktuelle Ertragssituation ist in keiner Weise geeignet, einen investitionsgetragenen Aufschwung auszulösen. Eine Möglichkeit gegenzusteuern wäre es, Sonderabschreibungen vorzusehen und die Investitionsprämie neu aufzulegen“, sagt Helmenstein.
Der Preis der Teilzeit
Dringend ändern müsse sich auch die Beschäftigungsintensität in Österreich. Die Zahl der Erwerbstätigen ist seit 2019 um fünf Prozent gestiegen, die geleisteten Arbeitsstunden sind um sechs Prozent zurückgegangen. „Wir sprechen über ein enormes Ausmaß an entgangenem Wohlstand. Unsere Wirtschaftsleistung könnte um sechs Prozent höher sein, wenn wir die gleiche Beschäftigungsintensität hätten wie 2019. Das ist der Preis der Teilzeit. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes würden mehr Frauen Teilzeit als Vollzeit arbeiten. Rechne man Männer und Frauen zusammen, liege die Teilzeitquote in Österreich bei 30,5 Prozent. Und das stehe in krassem Widerspruch zu dem, was wir in Europa sehen. Da gebe es nämlich keinen Trend zur Teilzeit. Ändern könne man die Situation unter anderem, indem man eine Diskussion darüber führt, wie Beitragsstrukturen so zu verändern sind, dass es nicht mehr möglich ist, mit einem minimalen finanziellen Einsatz das gesamte Leistungsspektrum beispielsweise bei der Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Es bedürfe also nicht nur einer Höchst-, sondern auch einer Mindestbeitragsgrundlage.
Vorsichtssparen und Marktchancen
Die aktuelle Konsumflaute erklärt Helmenstein unter anderem mit einem rationalen Vorsichtssparen. Außerdem könne man derzeit durch Sparen ein Zinseinkommen erzielen. Frustrierend für Konsumentinnen und Konsumenten sei außerdem die Tatsache, dass die reale Kaufkraft der Geldmögen im Jahr 2024 infolge der Inflation auf das Niveau der realen Kaufkraft des Jahres 2016 zurückgeworfen worden sei. Damit seien acht Jahre an realer Kaufkraft bei den Geldvermögen verloren worden.
Was den Export und die internationalen Marktchancen angeht, rät Helmenstein, alle Chancen des transatlantischen Handels zu nutzen. Denn entscheidend für den Erfolg sei, ob es eine ähnliche geopolitische Sichtweise gebe. Und das sei bei den USA tendenziell der Fall: „Friendshoring schlägt Nearshoring“. Vor allem aber: „Wir brauchen in Österreich und in Europa einen disruptiven wirtschaftspolitischen Politikwechsel.“
Präsentation von Christian Helmenstein hier